14

 

Das Flußboot geisterte durch seinen Traum wie ein funkelnder, zwanzig Millionen Karat schwerer Diamant.

Ein Schiff wie dieses hatte es bisher nicht gegeben und würde es auch niemals wieder geben.

Es würde auf den Namen Nicht vermietbar getauft werden. Niemand würde je die Kraft dazu entwickeln, es ihm fortzunehmen, dazu würde es zu gut ausgerüstet und bewaffnet sein. Und niemand würde es von ihm leihen oder mieten können.

Der Name des Schiffes leuchtete in gewaltigen schwarzen Buchstaben auf der weißen Außenhülle. NICHT VERMIETBAR.

Das wunderbare Flußboot würde vier Decks besitzen: Das Maschinendeck, das Hauptdeck, das Hurrikandeck und das Landedeck für die Flugmaschine. Seine Gesamtlänge würde vierhundertvierzig Fuß und sechs Zoll betragen, der Abstand von der Oberkante der Schaufelräder zur Reling neununddreißig Fuß. Tiefgang, beladen: zwölf Fuß. Die Hülle würde aus Magnalium hergestellt sein. Hin und wieder würden die langen Schornsteine große Rauchwolken ausspeien, weil sich an Bord ein Kessel befand, der aber lediglich dazu diente, die Dampfkatapulte der Geschütze zu betreiben. Die gigantischen, an beiden Seiten angebrachten Schaufelräder würden von leistungsstarken Elektromotoren angetrieben.

Die Nicht vermietbar würde das einzige metallene Schiff auf dem Fluß sein, das einzige, das unabhängig war von Wind oder Ruderern, und jeder, an dem es vorbeifuhr, würde aufspringen und den Hals recken, um einen Blick darauf zu werfen; egal ob er nun zwei Millionen Jahre vor Christus geboren worden war oder zweitausend Jahre nach ihm.

Und er, Sam Clemens, würde es kommandieren. Er würde der Kapitän sein, da auch an Bord eines Schiffes, das die größten Köpfe aller Zeiten zu seinen Passagieren zählte, nur einer das Kommando haben konnte.

John Lackland konnte sich seinetwegen Admiral oder sonst was nennen, aber soweit es Sam Clemens anbetraf, würde er für ihn nichts weiter sein als der Erste Offizier. Und wenn es tatsächlich hart auf hart kommen sollte, würde er, Kapitän Samuel Clemens, es König John – John Ohneland, Drecksack-John, Hurensohn-John, Schweine-John, Erzlumpen-John – sogar verbieten, seine ungewaschenen Füße auf das Schiff zu setzen. Dann würde sich Sam Clemens, angetan mit einem weißen Kilt, ein weißes Tuch über der Schulter und eine ebensolche Mütze tragend, eine riesige grüne Zigarre rauchend über die um die Brücke führende Reling lehnen und brüllen: Packt zu, ihr Landratten! Ergreift diese Ausgeburt der Unmoral und Hinterlist an Arsch und Kragen und laßt ihn über die Planke laufen. Es ist mir Wurscht, ob er im Wasser oder auf dem Uferstreifen landet. Werft allen Müll über Bord!

Und dann würde der famose Prinz John iml hohen Bogen über die Reling des Maschinendecks segeln. Schlauberger-John hätte dann alle Gelegenheiten, in seinem französischakzentuierten Mittelenglisch, in anglonormannischem Französisch oder Esperanto aufzukreischen. Schließlich würden die Männer die Planke wieder einziehen, Glocken läuten, Pfeifsignale geben, und Sam Clemens, der genau hinter dem Steuermann stand, würde das Kommando zum Start der Reise geben.

Die Reise! Ein Flußbett hinauf, das zehn oder zwanzig Millionen Meilen lang war. Es konnte gut möglich sein, daß sie vierzig oder gar hundert Jahre unterwegs waren. Man hatte auf der Erde weder von solch einem Schiff noch von solch einem Fluß, geschweige denn von einer Fahrt dieses Formats zu träumen gewagt. Ja, es würde den Fluß hinaufgehen, den einzigen, den es auf diesem Planeten gab, auf einem Schiff, wie es nur einmal existierte, mit Sam Clemens als La Sipresto, dem Kapitän, den man auch als La Estro, den Boß, bezeichnen würde.

Junge, er war wirklich glücklich!

Und dann, gerade in dem Augenblick, als das Schiff sich auf die Flußmitte zubewegte, um die Strömung auszuprobieren, die hier ganz besonders stark war, als Tausende von Menschen, die den Stapellauf von beiden Ufern verfolgt hatten, ihm zuwinkten und sich die Kehlen vor Begeisterung heiser schrien, sah Samuel Langhorne Clemens alias Mark Twain – der Kapitän, der Boß – einen Mann mit langem blonden Haar und breiten Schultern, der sich rücksichtslos seinen Weg durch die Menge bahnte.

Der Mann trug ein von Magnetverschlüssen zusammengehaltenes, wie ein Kilt wirkendes Gewand. Die Ledersandalen an seinen Füßen waren aus der Haut eines Drachenfisches gemacht. Um seinen muskulösen Hals schlang sich eine Kette aus glänzenden, bunten Hornfischgräten. Seine gewaltige Hand hielt den hölzernen Schaft einer großen, eisernen Axt umklammert. Blaßblaue Augen funkelten Sam an wie die eines Todesengels. Die Nase des Mannes glich der eines Habichts.

Schneller! Schneller! schrie Sam den Rudergänger an. Volle Kraft voraus!

Aber die mächtigen Schaufelräder griffen eher gemütlich ins Wasser hinein. Tschugg, tschugg, tschugg. Und selbst durch das fiberglasisolierte Deck konnte man die sanften Vibrationen spüren. Und dann war der blonde Mann, der Erik Blutaxt hieß und ein Wikingerkönig aus dem zehnten Jahrhundert war, ganz übergangslos zwischen ihnen auf der Brücke.

Er schrie Sam Clemens in Altnorwegisch zu: Verräter! Du Spottgeburt aus Dreck und Feuer! Erinnerst du dich, daß ich dir versprach, irgendwo am Flußufer auf dich zu warten? Du hast mich hintergangen, weil du das Eisen aus dem heruntergefallenen Stern für dich allein haben wolltest! Du wolltest das Schiff mit niemandem teilen!

Sam floh, ließ die Brücke hinter sich, kletterte eiserne Leitern hinab, bis er sich in den halbdunklen Gängen der Maschinenräume wiederfand, aber stets war Erik Blutaxt nur zwei Schritte hinter ihm.

Er rannte an den überdimensionalen Elektromotoren vorbei, und dann war er plötzlich in den chemischen Laboratorien, wo die Ingenieure dabei waren, aus menschlichen Exkrementen Salpeter herzustellen, das sie mit Holzkohle und Schwefel mischten, um daraus Schießpulver herzustellen. Sam nahm sein Feuerzeug, riß eine Pechfackel an sich, ließ eine kleine Flamme auflodern und hielt seinem Verfolger die Fackel entgegen.

Halt, oder ich jage das ganze Schiff in die Luft! schrie Sam.

Erik blieb zwar stehen, aber er schwang ununterbrochen die große Axt über seinem Kopf. Dann grinste er und sagte: Tu’s doch! Dir fehlt ja doch der Mumm dazu! Du liebst dieses Schiff mehr als alles andere auf dieser Welt – mehr noch als deine entzückende Livy! Du würdest es doch niemals zulassen, daß es in die Luft geblasen wird! Nichts wird mich davon abhalten, dir jetzt den Schädel zu spalten und dann das Schiff an mich zu reißen!

Nein! schrie Sam. Nein! Das darfst du nicht! Das kannst du nicht tun! Dieses Schiff ist meine ganze Liebe, mein Leben, meine Welt! Das kannst du nicht tun!

Der Nordmann kam noch näher auf ihn zu. Immer noch zerschnitt die Axt leise zischend die Luft über seinem Kopf.

Ich kann es nicht? Warte nur ab!

Als Sam über die Schulter blickte, gewahrte er einen Schatten, der sich auf ihn zubewegte und zu einer hochgewachsenen, gesichtslosen Gestalt wurde. Sie gehörte X, dem geheimnisvollen Fremden, dem Renegaten unter den Ethikern, der dafür gesorgt hatte, daß der große Meteorit auf diesen Planeten gefallen war, damit Sam zu dem Eisen und Nickel kam, das er benötigte, wenn er auf einer mineralienarmen Welt wie dieser zu seinem geplanten Schiff kommen wollte. Der Unbekannte hatte ihn dabei unterstützt, jetzt war es fertig und konnte den Weg flußaufwärts nehmen, bis es den See am Pol erreichte, wo der unter Wolkenbänken versteckte Turm, der Große Gral, oder wie immer man ihn auch nennen wollte, von dichten Nebeln umdräut stand. Einmal dort angekommen, würden Sam und die elf anderen Auserwählten nach einem Plan, den X ihnen noch immer nicht offenbart hatte, den Turm stürmen und herausfinden, daß… ja, was eigentlich? Was dort vor sich ging.

Fremder! rief Sam. Steh mir bei! Rette mich!

Das Gelächter des anderen war so kalt wie ein Nordwind und verwandelte das Innere seiner Magenwände in Kristall.

Rette dich selbst, Sam!

Nein! Nein! heulte Sam. Du hast es mir versprochen! Und dann stöhnte er mit geöffneten Augen zum letzten Mal auf. Oder hatte er etwa nur geträumt, gestöhnt zu haben?

Er setzte sich auf. Sein Bett war aus Bambus. Die Matratze aus geflochtenen Bambusfasern und mit Blättern des Eisenbaums gefüllt. Das Laken bestand aus fünf mit Magnetverschlüssen aneinandergehefteten Tüchern. Das Bett stand mit dem Kopfende an der Wand eines zwanzig Quadratmeter großen Raumes, in dem ein großer und ein kleiner runder Tisch standen, des weiteren ein Dutzend aus Bambus- oder Pinienholz hergestellter Stühle und ein tönerner Nachttopf. Er sah einen aus dickem Bambusrohr gefertigten, halbvollen Wassereimer, eine große Kiste, in der hochkant aufgerollte Papierrollen standen, einen Ständer mit Bambus- und Pinienholzspeeren, die entweder Feuerstein- oder Eisenspitzen besaßen, Eibenholzbogen und Pfeile, eine Streitaxt aus Nickeleisen und vier lange, stählerne Messer. An der Wand waren mehrere Haken angebracht, an denen weiße Tücher hingen. An einem Hutständer baumelte eine Seemannsmütze; die eines Offiziers. Sie war aus Leder und mit dünnem, weißem Stoff überzogen.

Auf dem großen Tisch stand sein Gral, ein grauer Metallzylinder mit einem Griff aus dem gleichen Material.

Auf dem runden Beistelltischchen: gläserne Fläschchen, deren Inhalt aus tiefschwarzer Tinte bestand, eine Anzahl von knöchernen Schreibstiften, ein Federhalter mit Nickeleisenspitze. Die daneben ausgebreiteten Blätter waren aus Bambus gemacht; andere wiederum aus dem feinen Pergament, das die Magenwände des Hornfisches lieferten.

Gläserne Fenster in den Wänden! Soweit Clemens wußte, war dies das einzige Haus seiner Art auf der ganzen Welt. Mit ziemlicher Sicherheit gab es jedenfalls keines im Umkreis von zehntausend Meilen.

Das einzige Licht kam vom Himmel herab. Obwohl das Morgengrauen noch nicht eingesetzt hatte, war es heller als bei Vollmond auf der Erde. Gigantische Sterne, von denen manche so hell waren, als seien sie abgebrochene Stücke des Mondes, leuchteten in allen Farben. Zwischen ihnen schwebten leuchtende Nebel dahin, und es sah fast so aus, als seien einige davon dieser Welt näher als die Sterne selbst: Es waren kosmische Gaswolken, Erscheinungen, die die etwas empfindsameren Bewohner des Flußtales stets aufs neue in Erstaunen versetzten.

Sam Clemens leckte sich die Lippen, die noch immer nach dem Likör schmeckten, den er vor dem Einschlafen zu sich genommen hatte. Sie schmeckten sauer. Aber auch der Alptraum hinterließ einen bitteren Nachgeschmack in Sams Mundhöhle. Er taumelte hoch und durchquerte den Raum. Erst als er vor dem Tisch stand, nach seinem Feuerzeug griff und mit dessen Flamme ein kleines Fischöllämpchen anzündete, öffnete er die Augen ganz.

Er machte eines der Fenster auf und schaute auf den Fluß hinab. Noch vor einem Jahr hätten seine Augen nichts weiter als eine flache Ebene mit einer Breite von eineinhalb Meilen erblickt, auf der außer kurzem, zähem, hellgrünem Gras keine Vegetation existierte. Was er jetzt sah, waren hochaufgetürmte Erdhügel, tief in den Boden getriebene Bergwerksschächte und unzählige Gebäude aus Bambus und Kiefernholz, in denen große, aus Ziegeln gemauerte Öfen brannten. Dies waren seine (sogenannten) Stahlwerke, Schmieden, Waffenkammern, Laboratorien und Chemiewerke. In einer Entfernung von einer halben Meile lag die schwer befestigte Palisadenwand, hinter der das erste metallene Schiff entstand, das hier vom Stapel laufen würde.

Zu Sams Linken leuchteten Fackeln auf. Selbst in der Nacht waren seine Leute dabei, dem harten Boden seine kostbaren Schätze zu entreißen.

Hinter seinem Haus hatte sich einst ein Wald aus tausend Fuß hohen Eisenbäumen, Rotfichten, Krüppelkiefern, Eichen, Eiben und Bambusdickichten befunden. Er hatte das gesamte, dem Gebirge vorgelagerte Hügelgebiet bedeckt: Die Hügel waren zum Großteil noch da, aber abgesehen von den Eisenbäumen, die als einzige den Axthieben der Männer widerstanden hatten, waren sie jetzt kahl. Sie hatten das zähe Gras geschnitten und seine Fasern so lange chemisch behandelt, bis man aus ihnen Seile und Papier machen konnte, obwohl ihre Wurzeln dermaßen ineinander verwebt waren, daß man sie nicht auseinander bekam. Die Arbeit, die man hatte aufwenden müssen, um das Gras zu schneiden, war ungeheuer gewesen, und Unmengen von Material waren dabei verbraucht worden: Man hatte alles getan, um an das im Boden lagernde Metall heranzukommen. Sie hatten einen hohen Preis gezahlt – nicht etwa in Geld, weil es das hier nicht gab –, aber in Schweiß, Feuerstein und abgestumpften Werkzeugen aus Metall.

War die Umgebung vor den Minenarbeiten noch ein buntes, paradiesisches Fleckchen gewesen, wirkte es nun wie ein Schlachtfeld. Verschwunden waren die farbenprächtigen Blumen, die Ranken, die an den Bäumen wuchsen, und das gesamte Grün. Wenn sie wirklich das Schiff dergestalt bauen wollten, wie sie es vorhatten, mußten sie die Häßlichkeit um sich herum ertragen.

Der feuchte, unangenehm kalte Wind, der jede Nacht um diese Zeit aus dem Norden kam, ließ Sam frösteln, aber auch die ihn umgebende Einöde hatte ihren Anteil daran, daß er dastand und zitterte. Er liebte nichts mehr als die Schönheit und die Ordnung der Natur, und auch wenn er insgesamt anders über diese Welt in ihrer Gesamtheit dachte, hatte ihm die parkähnliche Gestaltung des Flußtales immer zugesagt. Nun hatte er es wegen eines Traumes unbewohnbar gemacht und würde es noch weiter verwüsten müssen, denn seine Mühlen und Fabriken brauchten immer mehr Brennstoff, um Papier und vor allem Holzkohle herstellen zu können. Alles, was dieser kleine Staat einst besessen hatte, war mittlerweile aufgebraucht, und aus Cernskujo, dem Land, das unmittelbar jenseits der nördlichen Grenze lag, begann man bereits ebenso unwillig wie im südlichen Publiujo mit den Holzvorräten herauszurücken. Wenn es so weiterging, würde ihm entweder nichts anderes übrigbleiben, als mit seinen engsten Nachbarn einen Krieg anzufangen oder sich auf der anderen Seite des Flusses nach neuen Handelspartnern umzusehen. Oder sie zu erobern und ihnen das Holz einfach wegzunehmen. Sam hatte keine Lust, so etwas zu tun; Kriege waren grundsätzlich abscheulich für ihn, allein darüber nachzudenken verursachte ihm psychischen Schmerz.

Aber wenn er sein Schiff bauen wollte, brauchte er Energie für seine Fabriken.

Und wenn er Aluminiumgeneratoren und Motoren bauen wollte, benötigte er Bauxit, Kryolith und Platin.

Eine ergiebige Lagerstätte all dieser drei Elemente lag in Soul City, das von einer Nation bewohnt wurde, deren Gebiet sechsundzwanzig Meilen flußabwärts lag und von Elwood Hacking beherrscht wurde, einem Mann, der die Weißen haßte.

Bisher war es Sam noch immer gelungen, Bauxit, Kryolith, Zinn und Platin gegen eiserne Waffen einzutauschen, obwohl sein eigenes Land, dem man den Namen Parolando gegeben hatte, sie selbst dringend benötigte. Nachdem Hacking ihnen eine Bedingung nach der anderen auferlegt hatte, verlangte er jetzt noch, daß die Männer von Parolando selbst zu ihm kommen sollten, um seine Erze abzubauen und flußaufwärts zu schaffen.

Sam stieß einen tiefen Seufzer aus. Warum zum Teufel war es dem geheimnisvollen Fremden nicht gelungen, den Meteor in der Nähe der Bauxitablagerungen niedergehen zu lassen? Dann wäre vieles für Blutaxts Wikinger und ihn einfacher gewesen: Sie hätten lediglich an Land zu gehen und die Umgebung in Besitz zu nehmen brauchen, das jetzt Hacking gehörte. Wenn er später aufgetaucht wäre, hätte er nichts anderes tun können, als sich Sam anzuschließen oder sich wieder fortzuscheren.

Aber immerhin: Selbst ein Wesen, das über solche Kräfte verfügte wie der unbekannte Renegat, konnte kaum dazu fähig sein, die Absturzstelle eines hunderttausend Tonnen wiegenden Eisen-Nickel-Meteors genau vorherzubestimmen. Offenbar hatte der Fremde angenommen, daß der Meteor genau am richtigen Fleck niedergegangen war, denn vor seinem Verschwinden hatte er Sam noch erzählt, daß die restlichen Mineralien, die er benötigte, sich in einer Entfernung von nicht mehr als sieben Meilen befänden. Aber er hatte sich geirrt, was Sam gleichzeitig wütend und glücklich machte. Wütend war er gewesen, weil die Mineralien nun doch außerhalb seiner Reichweite lagen; und glücklich fühlte er sich deswegen, weil ihm allmählich aufging, daß auch die Ethiker nicht unfehlbar waren.

Aber auch diese Erkenntnis würde den Menschen, die für ewig zwischen zwanzigtausend Fuß hohen Bergwänden in einem kaum mehr als neun Meilen breiten Tal gefangengehalten wurden, nicht weiterhelfen. Sie würden weiterhin hier ihre Tage fristen – es sei denn, es gelang Samuel Langhorne Clemens, sein geplantes Schiff fertigzustellen.

Sam trat an einen aus Pinienholz gefertigten Schrank, öffnete eine seiner Türen und entnahm ihm eine undurchsichtige gläserne Flasche, die etwa zwanzig Unzen reinsten Bourbons enthielt, der von Leuten stammte, die selbst nicht tranken. Er kippte sich drei Unzen rein, leckte sich die Lippen, stöhnte wohlig und strich sich zufrieden über den Magen. Ha! Es gab überhaupt nichts Besseres, um einen neuen Tag anzufangen, besonders dann, wenn man gerade aus einem Alptraum erwachte, den sogar der Ungeheure Traumzensor als unzumutbar zurückgewiesen hätte. Vorausgesetzt natürlich, der Ungeheure Traumzensor hegte irgendwelche Sympathien für den beliebten Traumerzeuger Sam Clemens. Vielleicht mochte ihn der Ungeheure Traumzensor auch überhaupt nicht. Es sah überhaupt so aus, als würden nur sehr wenige Leute ihn wirklich lieben. Und das lag daran, daß er, solange er den Bau des Schiffs vorantrieb, hin und wieder Dinge tun mußte, die ihm selbst nicht gefielen.

Und dann war da noch Livy, die auf der Erde fünfunddreißig Jahre lang seine Frau gewesen war.

Sam fluchte, rupfte an einem imaginären Schnauzbart, griff erneut in den Schrank und nahm die Flasche ein zweitesmal heraus. Er schluckte. In seinen Augen waren plötzlich Tränen; und er wußte nicht, ob sie das scharfe Getränk oder der Gedanke an Livy hervorgerufen hatte. Es war nicht unwahrscheinlich in dieser Welt der komplexen Zwänge und geheimnisvoller Vorgänge – und Treibkräfte –, daß es ein wenig an beidem gleichzeitig lag, zuzüglich einiger anderer Faktoren, die aufzuzählen ihn sein momentan bereits angeschlagenes Kleinhirn hinderte. Es würde abwarten, bis sein Großhirn auf der Strecke blieb, dann die intellektuellen Windungen anfallen und die Rückstände des ersteren in die Knie zwingen.

Sam ging an den Bambusmatten vorbei und warf einen Blick aus einem anderen Fenster. Unter ihm, etwa zweihundert Yards entfernt, lag unter den weitgestreckten Ästen eines Eisenbaumes eine runde, konisch zulaufende Hütte mit zwei Räumen, in deren Schlafzimmer sich jetzt wahrscheinlich Olivia Langdon Clemens – seine Frau! – seine Ex-Frau – und der große, hagere Savinien de Cyrano II de Bergerac, spitznasiger Raufbold und Degenfechter, Freigeist mit sensiblem Kinn, Saufaus und Literat das Bett teilten.

»Livy, wie konntest du mir das nur antun?« sagte Sam, übermannt von Selbstmitleid. »Wie konntest du nur so mein Herz brechen, das die Liebe deiner Jugend war?«

Ein Jahr war nun vergangen, seit sie überraschend an der Seite Cyrano de Bergeracs aufgetaucht war. Er war natürlich schockiert gewesen, und das mehr, als je zuvor in seinem zweiundsiebzig Jahre währenden Erdenleben und dem sich daran anschließenden neunundzwanzigjährigen auf der Flußwelt. Aber er war darüber hinweggekommen, das heißt, beinahe wäre es dazu gekommen, hätte er nicht bald darauf einen zweiten Schock erlitten, wenngleich dieser auch geringerer Natur gewesen war: Nichts würde den ersten jemals übertreffen können. Immerhin, er hatte erkannt, daß es Livy unmöglich gewesen sein mußte, einundzwanzig Jahre ohne einen Mann zu verbringen, schon gar nicht, wenn sie plötzlich wieder jung und hübsch und begehrenswert war und keine Hoffnung darauf bestand, daß sie ihn jemals wiedersah. Sam selbst hatte die Jahre mit einem halben Dutzend anderer Frauen verbracht, und es war idiotisch, anzunehmen, daß es ihr anders ergangen war. Aber er hatte dennoch erwartet, daß sie ihren Partner wieder verlassen würde, sobald sie ihn sah.

Aber dazu war es nicht gekommen. Sie liebte diesen Bergerac.

Seit jener Nacht, in der sie so plötzlich aus dem Nebel des Flusses erschienen war, hatte Sam sie fast jeden Tag gesehen. Sie hatten sich miteinander in freundschaftlichem Ton unterhalten, und hin und wieder eine Situation erlebt, in der sie wie in den alten Tagen auf der Erde lauthals miteinander lachten oder Scherze machten, und manchmal konnte man an ihrer beider Blicke erkennen, daß die alte Liebe erneut zwischen ihnen aufflackerte. Und dann, wenn Sam das Gefühl hatte, es nicht mehr länger aushalten zu können, während sie lachte und er das Gefühl verspürte, weinen zu müssen, hatte er einen Schritt auf sie zugetan, während Livy schnell an Cyranos Seite zurückgekehrt war, als sei dieser Mann er, und er selbst, Samuel, ein völlig anderer.

Jede Nacht verbrachte sie mit diesem dreckigen, ungeschlachten, spitznasigen, weichkinnigen, adamsäpfeligen, aber farbigen, intelligenten, schlagfertigen, energischen, talentierten und scharfzüngigen Franzosen. Dieser kraftstrotzende Gockel, dachte Sam. Er konnte ihn sich gut vorstellen, wie er durch das Zimmer sprang, krähend vor Geilheit, und die hellhäutige, kurvenreiche Gestalt Livys bestieg, wobei er unentwegt auf und nieder hüpfte und Geräusche ausstieß wie ein Laubfrosch…

Es lief ihm kalt den Rücken hinunter. All das machte ihm zu schaffen. Selbst wenn er gelegentlich heimlich eine Frau mit in seine Hütte nahm – wobei für seine Geheimnistuerei absolut kein Grund bestand –, konnte er Livy nicht vergessen. Selbst die gelegentliche Portion Traumgummi nützte da nichts. Und so segelte er immer wieder durch die von Drogen aufgepeitschte See des Unterbewußtseins, in dem die Stürme heulten, die sein Verlangen nach ihr nur noch mehr schürten. Das herrliche Schiff mit dem Namen Livy; ein Bauch aus weißen Segeln, ein Leib wie eine sauber geschnittene, stromlinienförmig gebogene Hülle…

Und dann hörte er ihr Lachen; ihr wunderbares Lachen. Das war das Allerschlimmste für ihn.

Sam durchquerte sein Haus und warf einen Blick durch die Vorderfenster. Neben ihm stand der eichene Untersatz mit dem großen, selbstgeschnitzten Steuerrad. Dieser Raum hier war seine Brücke. Das Gebäude lag an einem Hang, nahe der Ebene, und stand auf dreißig Fuß hohen Pfählen. Man konnte es von unten lediglich durch eine Leiter und von der Steuerbordseite her (um einen nautischen Begriff zu gebrauchen) durch eine Pforte direkt von dem hinter ihm aufragenden Hang aus betreten. Auf dem Dach der Brücke hing eine große Glocke; wahrscheinlich die einzige metallene Glocke dieser Welt. Sobald die in der Ecke angebrachte Wasseruhr sechs anzeigte, würde Sam die Glocke läuten. Und dann würde das jetzt noch im Dunkeln daliegende Tal zu neuem Leben erwachen.

 

Auf dem Zeitstrom
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